Die wichtigste Entdeckung der Menschheit
Nehmen wir an, ein westlicher Reisender begibt sich auf die Suche nach dem Lebenssinn. Er reist nach Indien. Er hat sein Gepäck auf ein lebensnotwendiges Minimum beschränkt. Er pilgert zu tibetischen Lamas, die am Fuße des Himalaya in Höhlen leben. Er möchte ihnen Fragen zum Lebenssinn stellen.
Eine dieser Fragen, die er lange vorbereitet hat und von der er annimmt, dass sie dem Lama sicher Kopfzerbrechen bereiten wird, lautet folgendermaßen:
„Was ist die wichtigste und entscheidendste Entdeckung der Menschheit?“
Der Mönch sieht noch nicht einmal von seinem Wasserkessel auf, der auf der Feuerstelle gerade zu kochen beginnt. Er greift wie nebenbei in seine gelbrote Kutte und holt ein Kleinod hervor, das er unserem Reisenden übergibt.
„Was? Das soll die größte Entdeckung der Menschheit sein?“ Der Sinnsuchende hatte mit Antworten wie: `Das Rad, die Atombombe oder der Computer gerechnet´. Jetzt hält er nichts weiter als einen kleinen Handspiegel in der Hand.
Was soll er damit anfangen? Der Mönch schenkt sich und dem Reisendem Tee ein und lächelt milde. Die Antwort bleibt er dem Reisenden schuldig.
Ein Jahr später erscheint der Mann wieder bei dem Mönch. Stolz verkündet er, er wisse des Rätsels Lösung.
Der Sinn des Spiegels liege darin, sich selbst besser zu erkennen und all seine Fehler und kleinen Unstimmigkeiten gespiegelt zu bekommen.
Der Lama entgegnet dem Reisenden lächelnd, das dies mit Sicherheit eine interessante Sichtweise sei, aber nicht ganz der seinen entspräche.
Unser Sinnsuchender setzt seine Reise durch Indien fort. Er erlebt bittere Armut und Leid. Will helfen und weiß nicht wo beginnen. Wenn er spärliche Reste Wechselgeld in eine ausgestreckte Kinderhand fallen lässt, öffnen sich vor ihm augenblicklich 20 weitere Hände, die wiederum 20 Hände anlocken.
Er meditiert und betet. Er sieht keinen Ausweg aus all dem Leid. Er glaubt von der Antwort auf die Frage nach seinem Lebenssinn nie weiter entfernt gewesen zu sein.
Da er an den alles verbindenden energetischen Zusammenhalt glaubt, sieht er keinen Sinn mehr im Helfen. Er ist der Meinung, dass, wenn er seine Hand helfend ausstreckt, die Natur, da sie alles ausgleicht, irgendwo auf der Welt einen Abgrund auftut (das Gesetz der Balance). Wozu also das Ganze?
Auf all seinen Wegen führt er den Spiegel bei sich. Wieder und wieder schaut er hinein und fragt sich: „Was macht den Spiegel so besonders?“ Er beginnt sich in ihm zu verlieren. Je mehr er hineinschaut, desto sinnloser erscheint ihm sein Dasein. Er kommt zu dem Schluss, dass das Leben keinen Sinn an sich habe.
Eines Abends in Varanasi, am heiligen Fluss Ganges, nachdem er einen ganzen Tag auf den Ghats, den heiligen Stufen am Flussufer, den Verbrennungsritualen der Hindus beigewohnt hat, und der Geruch von verbranntem Menschenfleisch ihm nicht aus der Nase weicht, wird ihm plötzlich klar, was es mit dem Spiegel auf sich hat. Und während die Hindus das heilige Ritual der Verbrennung ihrer toten Angehörigen auf dem Ganges feiern und deren Asche in den heiligen Fluss streuen, damit sie den Kreislauf von Tod und Wiedergeburt endlich durchbrechen können um das irdische Jammertal zum letzten Mal durchlebt zu haben, macht sich unser Sinnsucher mit der gefundenen Antwort ein weiteres Mal auf den Weg zu seinem Lama.
Wieder sitzt der in tiefer innerer Versenkung vor seinem Wasserkessel. Er lädt den Reisenden ein, ihm bei einer Tasse Tee Gesellschaft zu leisten. Nachdem beide eine Weile in den Dampf des heißen Tees versunken waren, fragt der Mönch den Reisenden nach seiner Antwort.
Und der Reisende entgegnet, er wisse nun, dass der Spiegel die wichtigste Entdeckung der Menschheit sei, da er etwas reflektiere, das jenseits einer fälschlichen Identifikation mit einem Gesicht oder Ausdruck liegt.
Als er am Ganges saß und tief betrübt in den Spiegel schaute und jeder Lebenssinn in ihm erloschen schien, da sah er etwas Unvergessliches.
Bettelarme Mönche badeten im Ganges. Sie tollten wie junge Hunde im schmutzigen Wasser, spritzten sich nass, johlten und jauchzten. Im Hintergrund ziehen die Totenschiffe mit ihren brennenden Leichnamen vorbei. Ein größerer Gegensatz war kaum denkbar. Beide Rituale; das der lebensbejahenden Waschung und das der alles beendenden Verbrennung, fanden in unmittelbarer Nähe zueinander statt. Im Wasser ein und desselben Flusses.
Unser Reisender, der alle weltlichen Verbindungen gekappt hatte, sah erneut in den Spiegel. Diesmal sah er sein Gesicht eine tiefe innere Zufriedenheit ausstrahlen und dahinter nahm er etwas wahr, das einem uralten Quellbewusstsein zu entspringen schien. Es war nichts anderes als der Sinn des Lebens an sich. Dem Reisenden wurde klar, dass das Leben keinen anderen Sinn hat, als den, den wir ihm in jedem Moment neu zu geben bereit sind. Entweder ist es der tiefe Glaube der Hindus an ein Ende des irdischen Daseins, oder das erfrischende Tollen der Mönche nach einem langen Gebet.
Der Spiegel reflektiert das wahre Sein. Das, was hinter Falten, Haut und Haaren liegt. Das was hinter der Illusion von dem was man das „Ich“ nennt, zum Vorschein kommt. Das, was jenseits aller Glaubenssätze zu finden ist. Das, was bleibt, wenn alles andere verschwindet. Wenn nichts mehr weh tut, nichts bedrückt, nichts sich mehr bewegt, dann schaut man in den Raum des wahren Seins. Das zeigt einem der Spiegel in jedem Moment. Wir müssen nur bereit sein, es zu sehen. Und uns dann dafür oder dagegen entscheiden. Es geht nicht um die permanente Suche nach Glück. Es geht um das Erkennen, dass wir uns entscheiden dürfen, was wir wählen wollen. Das ist ein absolut einzigartiger Schöpfungsprozess.
Dieser Entscheidungsprozess kann in Momenten reinsten Bewusstseins wahrgenommen werden. Das macht den Spiegel zur größten Erfindung der Menschheit.
Der Mönch lächelt sein schelmisches Lächeln und fragt: „Und, bist Du bereit die Illusion der Identifikation aufzugeben und Dein reines Sein anzunehmen?“